Kolumnen von Benedikt Weibel
Das Desaster von Volkswagen
"Schweiz am Sonntag" 27. September 2015
Die Meldung: Volkswagen, „Symbol deutscher Ingenieurkunst“ und Deutschlands grösstes Unternehmen, hat die Messungen der Abgase seiner Diesel-Fahrzeuge in den USA seit Jahren manipuliert. Eine speziell entwickelte Software reduzierte die im Prüfstand gemessene Abgasmenge auf die gesetzlich vorgegebenen Standards. Der Ausstoss auf der Strasse war bis um das 35-Fache höher. Weltweit sind bis elf Millionen Fahrzeuge betroffen. Es werden Bussen bis zu 18 Milliarden Euro erwartet. Der Vorstandsvorsitzende von Volkswagen musste zurücktreten. Er tue dies im Interesse des Unternehmens und sei sich keines Fehlverhaltens bewusst.
Der Kommentar: 2007 kam Martin Winterkorn an die Spitze von VW. Der Konzern verkaufte damals sechs Millionen Autos im Jahr. Winterkorn fackelte nicht lang und formulierte ein überaus ehrgeiziges Ziel: Zehn Millionen verkaufte Autos im Jahre 2018. Damit wollte man Toyota als grösste Automobilfirma der Welt ablösen. Aus nüchterner Management-Sicht ist ein solches Ziel unsinnig. Nicht die schiere Grösse ist relevant, sondern die Rentabilität. Die Zielsetzung war auch aus einem anderen Grund problematisch. Schon einmal war eine Automobilfirma an der Hürde von zehn Millionen Autos fast zerbrochen. Vor zehn Jahren war Toyota eines der besten Unternehmen der Welt. Da rief man ein hohes Ziel aus: Zehn Millionen Fahrzeuge. Wenig später stellte Toyota fest, dass ihre Autos in den Pannenstatistiken immer mehr abrutschten. Man wechselte die Führung aus. Aber auch den neuen Managern gelang es nicht, die Qualität wieder in den Griff zu kriegen. Die Firma war ganz einfach zu schnell gewachsen. Millionen Fahrzeuge mussten zurückgerufen werden. Toyota brauchte Jahre, um sich von diesen Tiefschlägen zu erholen.
Um das Ziel von zehn Millionen Autos zu erreichen, musste VW vor allem in den USA zulegen. Vor zwei Jahren begleiteten zwei Journalisten des „Spiegel“ den Chef von VW auf einer Dienstreise dorthin und schrieben danach eine Titelgeschichte, die einen tiefen Einblick in die Kultur von Volkswagen ermöglicht. Was Winterkorn antrieb war „Wachstum, Wachstum, Wachstum“. Er hatte eine enorme Macht „Er ist mehr als ein Chef, er ist ein Herrscher, einer der letzten Diktatoren“, schrieb der „Spiegel“. Der Herrscher hielt Hof. Ein knappes Dutzend Leute, die ihm bedingungslos ergeben sind. Die er duzt, ohne dass sie ihn duzen. Die in allen sogenannten Baukastengruppen sitzen. „So kann Winterkorn seinen Konzern bis ins letzte Detail steuern.“ Frau Winterkorn hat ihren Mann auf der Dienstreise begleitet. Sie habe, berichtet der „Spiegel“, die Angst in den Augen der Mitarbeiter gesehen. Das Fazit ist scharf wie ein Skalpell: „Volkswagen ist Nordkorea minus Arbeitslager“.
Es sind diese beiden Faktoren, die VW ins Elend gestürzt haben: ein masslos ehrgeiziges Ziel und eine Kultur der Angst. Mit dem überrissenen Ziel wurde ein immenser Druck aufgebaut. Kritische Fragen waren tabu. Einem Herrscher widerspricht man nicht. Schon im Mittelalter hat man die Überbringer schlechter Nachrichten geköpft. In einem solchen Klima ist es einfacher zu betrügen, als die wahren Probleme auf den Tisch zu legen.
Der Amerikaner Peter Drucker gilt als der grösste Managementlehrer aller Zeiten. Er hat formuliert, was gute Führung ausmacht: „Leadership ist weder Rang, noch Titel, noch Geld, es ist Verantwortung“. Das ist pure Theorie. Winterkorn ist überzeugt, dass er keinen Fehler gemacht hat. Seinen Rücktritt inszeniert er als persönliches Opfer im Interesse des grossen Ganzen. Und selbstverständlich erhebt er Anspruch auf eine Abfindung in zweistelliger Millionenhöhe.
Manch rechtschaffener Schweizer wird sich sagen, dass das typisch deutsch ist. Man höre ja immer wieder, wie hierarchisch die vielen Deutschen bei uns sind. Das wäre ein Trugschluss. Die „Bilanz“ hat dem Präsidenten des Verwaltungsrates von Novartis eine brisante Frage gestellt: „Ihr Vorgänger Daniel Vasella hinterliess eine von Angst geprägte Firmenkultur. Sie wollen sie verändern. Gelingt es?“ In der Antwort kein Anflug eines Dementis, sondern der Hinweis, dass es Zeit brauche, bis man das verändert habe. Das neue Management von Novartis muss sich übrigens nicht nur um ihre Kultur kümmern. Die Firma wurde in den USA wegen angeblicher Zahlungen an Apotheken, um Novartis-Medikamente zu verkaufen, auf 3.35 Milliarden Dollar verklagt.
Benedikt Weibel