Kolumnen von Benedikt Weibel
Das Gute liegt so nah
"Frutigländer" 9. August 2015
Mein Vater erzählte mir Geschichten von den Bergen. Am Samstag arbeitete er in Thun noch bis am späteren Nachmittag. Dann band er die (damals noch ultralangen) Skis auf sein Velo (ein dreigängiger schwerer Engländer). Schwer bepackt fuhr er ins Kiental, stieg über die Griesalp zur Blümlisalphütte auf und machte am nächsten Tag eine Skitour. Ich war noch nicht vierzehn Jahre alt, als er mich auf die Weisse Frau führte. Seine Geschichten und die Touren mit ihm pflanzten mir den Virus Berg ein. Zum Kletterer geworden bin ich in den Kalkfelsen des Jura. Aber schon als Schüler hat es mich in die Berge des heutigen Welterbes gezogen. Das ideale Wochenende war ein Trip per Autostopp nach Meiringen und eine Kletterei in den Engelhörnern. Mit dem Risiko, erst am Montag-Mittag wieder in der Schule aufzutauchen. Wenn man älteren Semestern die Frage stellt „Wo waren Sie, als die Mondlandung stattfand?“, muss ich nicht zwei Mal überlegen. Auf dem ultralangen Grat vom Wiwannihorn aufs Bietschhorn.
Wenn ich heute zurückblicke, waren die Berge das einzig Konstante in meinem Leben. Dass die Welt immer hektischer wird, dass sich die Menge der verfügbaren Informationen alle anderthalb Jahre verdoppelt, das kümmert die Berge nicht. Wenn ich heute von der Griessalp aufs Hohtürli wandere, hat sich in den letzten fünfzig Jahren kaum etwas verändert. Erst wenn der Blick auf die Blümlisalp frei wird, sehe ich, dass die Weisse Frau nicht mehr weiss ist und dass doch nicht mehr alles so ist wie früher.
Es gehört zu den herausragenden Qualitäten unseres Landes, dass Agglomerationen und Natur einander so nahe sind. Trotz der Diskussionen um Dichtestress und die Zehn- Millionen-Schweiz: wo anders findet man in dieser Nähe Naturerlebnisse von solcher Intensität? Wer die Einsamkeit sucht, findet unzählige Möglichkeiten von Wanderungen, auf denen man kaum je einem Menschen begegnet.
Das Herzstück dieser Naturschweiz ist die Alpenlandschaft um den Konkordiaplatz, der grössten Gletscherlandschaft Mitteleuropas. 2001 haben die 25 Anstösser-Gemeinden eine Charta unterschrieben und sich verpflichtet, das Gebiet in seiner Vielfalt und Einzigartigkeit zu bewahren. Wenig später hat die UNESCO die Region Jungfrau – Aletsch in die Liste ihrer Welterben aufgenommen. Zum Zweck der nachhaltigen Entwicklung der Region haben die Gemeinden eine Stiftung gegründet. Die Stiftung hat für ihre Arbeit drei Schwerpunkte definiert: Erhalten, Zeigen, Erleben. Für die operative Umsetzung ist das sogenannte Managementzentrum verantwortlich, ein kleines Team in Naters. Es zeichnet beispielsweise für die Redaktion von Themenbroschüren verantwortlich, welche die Besonderheiten des Welterbes von Flora und Fauna über das Wasser bis zu den Gletschern darstellen. Zur Zeit konzentrieren sich die Tätigkeiten des Managementzentrums auf den Aufbau eines Besucherzentrums für das Welterbe, das im nächsten Jahr in Naters eröffnet werden soll.
Seit der Gründung der Stiftung darf ich den Stiftungsrat leiten. Vier der insgesamt acht Kolleginen und Kollegen im Stiftungsrat präsidieren eine der Anstösser-Gemeinden in den Kantonen Bern und Wallis. Die Delegiertenversammlungen finden immer in einer Welterbe-Gemeinde statt. Dabei wird die Gemeinde mit Worten und bei einem Rundgang vorgestellt. In Guttannen hat uns die Lehrerin erklärt, dass, wenn das Dorf wegen Lawinengefahr zweigeteilt ist, der Unterricht per ipad stattfindet. Da haben wir Städter nicht schlecht gestaunt. Ich habe die Region schon vorher gut gekannt, besser als die Menschen, die dort wohnen. Die durch meine Tätigkeit im Stiftungsrat ermöglichten Begegnungen und Gespräche haben meinen Blick erweitert. Es ist ja offensichtlich, dass gerade der Kanton Bern von einem Stadt-/Landgraben gezeichnet ist, was ihm gar nicht gut bekommt. Dieser Graben ist geprägt von Vorurteilen und Klischees. Das ist umso bedauerlicher, weil jede Seite die andere braucht, und zwar existenziell. Der Städter braucht die Natur, um auftanken zu können. Dazu gehört auch die Gastlichkeit der ansässigen Menschen. Die Bevölkerung auf dem Land braucht den Städter, weil er Umsatz bringt. Umsatz bringt er dann, wenn er die Gastlichkeit antrifft, die er erwartet. In den Jahren im Stiftungsrat habe ich gelernt, dass ein regelmässiger Austausch Klischees verschwinden lässt und durch Verständnis und gegenseitiger Respekt ersetzt. Deshalb bemühen wir uns besonders darum, Schülerinnen und Schüler aus dem Unterland in die Welterbe-Region zu holen, um dieses Verständnis möglichst früh wachsen zu lassen.
Schweizer Alpen Aletsch-Jungfrau: das ist ein wunderbares Erbe, zu dem wir Sorge tragen müssen. Es geht darum, den Menschen in den Einzugsgebieten immer wieder in Erinnerung zu rufen, welch grossartiger Erholungsraum in ihrer Nähe liegt. Die einheimische Bevölkerung muss sich bewusst sein, welchen unermesslichen Wert diese Landschaft hat. Sie darf auf die Auszeichnung UNESCO Welterbe stolz sein.
Benedikt Weibel