Kolumnen von Benedikt Weibel

Weg mit dem Ornament!

"NZZ-Verlagsbeilage zum SEF.2015" 1. Juni 2015

Ohne die Reduktion der Informationsflut auf ihre wesentlichen Elemente könnten wir nicht einmal eine Strasse überqueren. Reduktion bestimmt unsere Wahrnehmung und unser Handeln. Sie ist ein Überlebensprinzip, ein wissenschaftliches Prinzip, ein ästhetisches Prinzip und ein ökonomisches Prinzip.

„Suche den Kern des Problems. Konzentriere dich darauf. Schneide alles andere mit dem Rasiermesser ab.“ Willhelm von Ockham, ein englischer Theologe und Philosoph, hat diese glasklare Handlungsanweisung vor 700 Jahren formuliert. „Ockhams Razor“ ist im angelsächsischen Sprachbereich ein stehender Begriff geblieben.

Wie aber wird der Kern des Problems gefunden? Es brauche dazu 'le Coup d'Oeil', meint ein halbes Jahrtausend später Carl von Clausewitz, der Begründer der Lehre von der Strategie. Das sei die Kunst, aus einer unübersehbaren Menge von Informationen die für einen Entscheid relevanten Elemente zu erkennen. Daniel Goleman, der Protagonist der emotionalen Intelligenz, umschreibt es so: 'Just one cognitive ability distinguished star performers from average: pattern recognition, the ‚big-picture’ thinking.'

Die 80/20-Regel

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind zwei Ökonomen unabhängig voneinander und von zwei verschiedenen Seiten her auf das gleiche Phänomen gestossen. Hermann HeinrichGossen entwickelte die Lehre vom abnehmenden Grenznutzen. Vilfredo Pareto entdeckte, die asymmetrische Verteilung vieler Variablen, sowohl in der Natur wie im sozialen Bereich. Beide Phänomene lassen sich in einer gekrümmten Summenkurve darstellen. Ihre Interpretation besagt, dass sich mit 20 Prozent Input 80 Prozent des Outputs erzielen lassen. Die Angelsachsen habe dafür den bildhaften Ausdruck „the low hanging fruit effect“ geprägt.

Der amerikanische Psychologe Gary Klein hat im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums Entscheidungen in Extremsituationen untersucht. Zu diesem Zweck hat er Feuerwehrkommandanten im Einsatz beobachtet und ihre Entscheide anhand von Interviews analysiert. Aufgrund des Zeitdruckes erfolgten diese Entscheide intuitiv. Dabei werden konkrete Situationen mit Mustern verglichen, welche aufgrund von Erfahrungen im Gedächtnis gespeichert sind. Intuition komme also keineswegs einfach aus „dem Bauch“. Bei seinen Analysen ist Klein zu Schluss gekommen, dass es für einen Kommandanten entscheidend sei, seine Absichten so knapp wie möglich zu beschreiben. Je mehr Einzelheiten einbezogen würden, um so weniger sei zu erkennen, was wirklich wichtig sei.

Überflüssiges eliminieren

Neu ist diese Erkenntnis nicht, wie der berühmte Satz zeigt, der mehreren Geistesgrössen, darunter Goethe , zugeschrieben wird: 'Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen einen langen Brief schreibe, für einen kurzen hatte ich keine Zeit.'' Er bringt die Thematik auf den Punkt. Kurz, prägnant und einfach ist wirkungsvoller als kompliziert. Aber auch viel aufwendiger. Erst wenn man die Komplexität begriffen hat, ist man in der Lage, den Kern des Problems zu erfassen und die Lösung zu definieren. Einfachheit ist nicht einfach, sie muss hart erarbeitet werden. Steve Jobs hat mit seinem Credo 'Simplicity is the highest level of sophistification' Apple zur wertvollsten Unternehmung der Welt gemacht.

Ende 19. Jahrhundert erfasste die Bewegung, alles Überflüssige zu entfernen, auch die Architektur. Der österreichische Architekt Adolf Loos war mit seiner radikalen Losung „Weg mit dem Ornament“ der Impulsgeber für eines der einflussreichsten künstlerischen Experimente, das Staatliche Bauhaus in Weimar. Dort fanden sich die besten Architekten der Zeit, neben Künstlern wie Klee und Kandinski. Obwohl das Bauhaus von den Nazis nach nur 13 Jahren geschlossen wurde, sind seine klaren Proportionen und Linien noch heute stilbestimmend. Der Design-Fanatiker Steve Jobs war bekennender Bauhaus Anhänger. Apple-Produkte sind Zeugnisse der Bauhaus-Ästhetik.

'Simplify!'' steht über dem SEF 2015. Dieser kategorische Imperativ steht in der Tradition von Ockhams Rasiermesser und der Forderung von Adolf Loos, auf alles Ornamentale zu verzichten. Das ist dringender denn je. Wir erleben eine Umwälzung, vergleichbar mit der industriellen Revolution. Nur viel schneller und mit einem exponentiellen Wachstum der Komplexität. Die Reduktion auf das Wesentliche wird noch wichtiger und noch anspruchsvoller.

Hindernisse auf dem Weg zu Einfachheit

Und doch tun wir uns immer wieder schwer damit. Ein Hindernis ist der 'Fluch des Wissens'. Je tiefer wir in die Komplexität eindringen, desto mehr wissen wir, und es braucht Überwindung, sich auf wenige Hebel zu konzentrieren. Reduktion erfordert Mut und ist nie risikolos. 'Fokusangst' bezeichnet einen Zustand, der vor dem konsequenten Gebrauch von Ockhams Rasiermesser zurückschreckt. Nur ist die Verzettelung der Kräfte noch viel riskanter. Im Volksmund heisst es etwa 'Er kann vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen'. In der Managersprache heissen solche Menschen Mikromanager. Sie können wie die Technokraten wertvolle Arbeit leisten, aber Clausewitz hätte sie mangels Coup d'Oeuil nicht zu Feldherren ernannt. Die grössen Simplify-Verhinderer sind indessen die Bürokraten, und die sitzen nicht nur beim Staat. Je grösser die Institution, desto stärker die Versuchung, allerhand Stäbe aufzubauen. Klugscheisserabteilungen, wie sie despektierlich genannt werden. Die kosteten viel und hindern die Linie daran, sich mit dem Wesentlichen zu befassen. Auch hier sollte man Ockhams Rasiermesser stets in der Hinterhand haben. Glücklich die KMU's, die sich können sich solches schlicht nicht leisten können.

Nehmen wir Mary Barra zum Vorbild. Sie ist die erste Frau, die eine Automobilfirma führt. Die CEO von GM hat, als sie noch Personalchefin war, einen 15-seitigen Dresscode auf zwei Worte reduziert: angemessene Kleidung. Die Wirtschaft wird dem SEF zu Dank verpflichtet sein, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach der diesjährigen Veranstaltung mit gestärktem Coup d'Oeil und geschärftem Rasiermesser zu ihren Unternehmen zurückkehren.

Benedikt Weibel