Kolumnen von Benedikt Weibel

Lesen, Schreiben, Rechnen

"Persönlich" 1. Juni 2015

Neulich hat mir eine junge Primarlehrerin erzählt, wie schwer es ihren Schülerinnen und Schülern falle, zu lesen und das Gelesene zu verstehen. Sie habe deshalb mit ihrer Klasse eine Lesenacht organsiert. Bis spät in die Nacht haben sie gelesen und vorgelesen und dann im Schulzimmer übernachtet. Der Reiz sei allerdings weniger das Lesen, als das Übernachten in der Schule gewesen.

In meiner Vorlesung an der Uni Bern sitzen etwa fünfzig Studierende im Masterstudium für Betriebswirtschaft. Davon lesen zwei regelmässig eine Zeitung.

Am Anfang stand das Wort. Basis jeder Bildung sind die drei Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen. Die Lesefähigkeit ist Grundlage auch für das Schreiben und die Mathematik. Der „Spiegel“ hat der Zukunft des Lesens eine Titelgeschichte gewidmet. Experten sind der Meinung, die Fähigkeit, sich beim Lesen zu vertiefen, sei in Gefahr. Die konzentrierte Lektüre werde an den Rand gedrängt. Es ist an der Zeit, sich über das Absterben fundamentaler Kulturtechniken ebenso intensive Gedanken zu machen, wie um das Aussterben der Arten.

Die Leserzahlen der Schweizer Presse sinken unablässig. Die Diskussion über die Zukunft der Zeitung konzentriert sich indessen auf die Frage, wie mit digitalen Modellen Geld verdient werden kann. Daneben finden Diskussionen über die Qualität der Medien statt. Soziologen verfassen Handbücher, Politiker beklagen den zunehmenden Mainstream, und im Netz verbreitet sich der Ausdruck „Lügenpresse“. Wenn in Zukunft nicht mehr gelesen wird, sind all diese Fragen obsolet. Nicht mehr Texte werden gelesen, sondern „Snackable Content“. Emojis und andere Bilder ersetzen zunehmend Wörter. Das ist ein langsamer Prozess. Die „Digital Immigrants“ , die mit Zeitung und Buch aufgewachsen sind, bilden noch auf lange Zeit die Mehrheit der Bevölkerung. Irgendeinmal sind auch sie verschwunden. Zeitungen und Bücher werden zu Nischenprodukten. Wenn nichts dagegen unternommen wird.

Die junge Lehrerin unternimmt etwas. Ihre Initiative ist lobenswert. Auch die Freiburger Nachrichten FN sind aktiv geworden. Im Herbst 2014 wurde das Pilotprojekt „ZiG – Zeitung im Gymnasium“ lanciert. Die Schülerinnen und Schüler erhalten jeden Tag eine Zeitung. Sie lesen diese Zeitung, diskutieren darüber und verfassen Artikel zu aktuellen und regionalen Themen. Einzelne davon werden in den FN veröffentlicht. Ende April wurden die 300 beteiligten Schülerinnen und Schüler von Bundessrat Alain Berset im Nationalratssaal zu einer Aussprache empfangen. Grossartig! Man kann den FN und dem Gymnasium nur gratulieren. Da werden nicht nur die Kulturtechniken eingeübt und entwickelt, sondern auch Einsichten in wirtschaftliche, kulturelle und politische Zusammenhänge gewonnen. Da gewinnen alle: die Schülerinnern und Schüler, die Lehrer, die Freiburger Nachrichten und Bundesrat Berset.

Lieber Verband Schweizer Medien: Legt dieses Experiment flächendecken aus. Und beginnt nicht erst beim Gymnasium.

Benedikt Weibel