Kolumnen von Benedikt Weibel
Es gibt keine Welt mehr ohne Stau
"Sonntagszeitung" 15. Mai 2015
Ein Plädoyer für Gelassenheit
Es ist eine Berufskrankheit. Wenn ich in einem Bahnhof stehe, studiere ich den Abfahrtsanzeiger. Neulich in Lons-le-Saunier, der Hauptstadt des französischen Departementes Jura. La Gare SNCF ist ein in die Jahre gekommener Repräsentationsbau an bester Lage. Es ist Samstagmorgen um neun Uhr, der Bahnhof ist menschenleer. Zwischen sechs Uhr und zwölf Uhr fahren in Lons neun Züge ab. Zugfahren ist hier eine Strafe für die, die keine Alternative haben. Ein anderer Aspekt meiner Berufskrankheit ist die Beobachtung der Passagiere in den Zügen. Kürzlich bin ich mit Anzug und Krawatte mit der Pariser Metro gefahren und mir vorgekommen wie ein bunter Hund. Ein Geschäftsmann in Paris bewegt sich in Dienstwagen, auch wenn es doppelt so lange dauert.
Als ich vor 37 Jahren bei der SBB zu arbeiten begonnen habe, war im Volksmund die Rede, dass nur die AAAA die Bahn benutzen: die Armen, die Alten, die Auszubildenden und die Ausgeflippten. Verkehr war Ideologie. Privatverkehr rechts, ÖV links. Das hat sich gründlich geändert. Heute haben wir von Morgen früh bis am späten Abend mindestens jede Stunde, meist aber jede halbe Stunde, eine Verbindung mit dem öffentlichen Verkehr - von überall nach überall. In meiner Heimatstadt Solothurn, etwa gleich gross wie Lons-le-Saunier, verlassen von morgens sechs Uhr bis am Mittag 114 Züge den Bahnhof. Die Entscheidung, ob Bahn oder Auto hat nichts mehr mit links oder rechts zu tun. Man wählt ganz einfach das Verkehrsmittel, das ein Bedürfnis am besten bedient. Deshalb sind heute die Menschen in unseren Zügen ein repräsentatives Abbild der gesamten Bevölkerung.
Gut und teuer
Das System öffentlicher Verkehr Schweiz - Züge, Trams und Busse - ist bezüglich geografischer Abdeckung und Fahrplandichte weltweit unerreicht. Der Preis für die hohe Fahrplandichte ist eine schlechte Auslastung der Züge. Im Durchschnitt sind die Sitzplätze der SBB-Züge nur zu 27,5 Prozent belegt. Anders herum: über zwei Drittel der Sitzplätze fahren leer in der Landschaft herum. So gut dieses System ist, so teuer ist es auch. Der Aufwand an Steuergeld pro Kopf der Bevölkerung dürfte rekordverdächtig sein. Wer sich darüber ärgert, dem rate ich, morgens früh zwei Stunden die Menschenmassen in einem grösseren Bahnhof zu beobachten. Und dann sich vorzustellen, was wäre, wenn all diese Menschen in einem Auto sässen.
Im Zusammenhang mit dem Verkehr haben wir in unserem Land drei Probleme. Erstens ist der hohe Standard unserer Verkehrsinfrastruktur zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Unbeeindruckt von den hohen Kosten will man immer mehr. Zweitens haben wir Vorstellungen von einer Verkehrsidylle, die jeder Realität zuwiderlaufen. Vor zwei Jahren habe ich in Portugal das erste Mal in meinem Leben zur besten Tageszeit eine vollkommen leere Autobahn gesehen. Der Traum jedes Schweizer Autofahrers. Allerdings nicht das Resultat einer nachhaltigen Verkehrspolitik, sondern die Folge einer tiefen wirtschaftlichen Depression. Und drittens treiben die Kantone ihre Forderungen in einem munteren Wettbewerb gegenseitig in die Höhe, vor allem, wenn es sie wenig oder nichts kostet.
These: es gibt keine wirtschaftlich boomende Region auf dieser Welt, die ohne Staus, Stehplätze und Warteschlangen auskommt. Neulich konnte man Lobeshymnen über den Stadtstaat Singapur lesen. Ich habe eine kleine Rechnung gemacht. Wenn wir in der Schweiz die gleiche Bevölkerungsdichte hätten wie in Singapur, korrigiert um die nicht besiedelbaren Räume, so würden hier etwa 200 Millionen Menschen leben. Aus dieser Sicht verliert die 10 Millionen-Schweiz ihren Schrecken. Nehmen wir Staus, Stehplätze und Warteschlangen als eine Art Schnupfen. Man kann ihm nicht entgehen, muss aber dafür sorgen, dass er sich nicht zur Lungenentzündung entwickelt.
Weich vor hart
Das Rezept dazu enthält weiche und harte Massnahmen. Weiche Massnahmen sind verhältnismässig billig. Ihr Ziel ist, die bestehenden Kapazitäten besser zu nutzen. Die Anzahl Sitzplätze eines Zuges lassen sich gegenüber heute um mindestens 25 Prozent steigern. Dass der Preis ein wirkungsvolles Steuerungsinstrument ist, sieht man am Erfolg der boomenden Fernbusverkehre. Für einen tiefen Preis nimmt man lange Fahrzeiten und instabile Fahrpläne in Kauf. Mit einer geeigneten Preispolitik können die Verkehrsspitzen geglättet und ein Teil der heute leeren Sitze belegt werden. Mit weichen Massnahmen lassen sich auch die Probleme auf den Autobahnen entspannen: selektive Freigabe der Pannenstreifen, Harmonisierung der Geschwindigkeit bei starkem Verkehrsaufkommen, Überholverbot für Lastwagen. 70 Prozent der Autopendler fahren Distanzen von weniger als 20 Kilometer. Das ist ein Rayon, der sich problemlos mit dem e-Bike abdecken lässt. Überhaupt: das Fahrrad. Es ist bezüglich Energieverbrauch und Reichweite unschlagbar. Das e-Bike hat zwei Vorteile: es ist selbst bei defensivem Fahrstil (was zu empfehlen ist) schneller als das konventionelle Velo. Und man kommt nicht zum Schwitzen. Ich fahre mit meinem Stromer im Agglomerationsverkehr etwa 2500 Kilometer im Jahr und spare dadurch etwa 80 Stunden.
Harte Massnahmen sind Investitionen zur Beseitigung von Kapazitätsengpässen und zur Kapazitätserweiterung. Sie kosten enorm viel. Ihre Realisierung braucht Jahre wenn nicht Jahrzehnte, und sie verursachen beträchtliche jährliche Folgekosten für Betrieb und Unterhalt. Im Bahnbereich muss man grob mit vier Prozent Folgekosten pro Jahr rechnen. Nächstes Jahr kommt der Gotthardbasistunnel in Betrieb, etwas später der Tunnel durch den Ceneri. Beide Werke werden gegen 15 Milliarden Franken gekostet haben. Vier Prozent dieser Summe werden die ohnehin schon angespannten Budgets der SBB zusätzlich belasten. Investitionen in Schiene und Strasse gilt es radikal zu selektionieren. Nur dort, wo das Kosten-/Nutzenverhältnis eindeutig ist, lohnt sich der enorme Mitteleinsatz. Ganz sicher nicht in diese Kategorie fällt die immer wieder auftauchende Idee einer neuen Hochgeschwindigkeits-Verbindung zwischen Zürich und Bern. Ebenso sorgfältig müssen weitere systematische Taktverdichtungen im Bahnverkehr beurteilt werden. Die führen unweigerlich zu einer weiteren Abnahme der durchschnittlichen Sitzplatzbelegung.
Software vor Hardware
Wenn wir weiter in die Zukunft blicken, so stehen weiche Massnahmen einer neuen Kategorie im Vordergrund. Share Economy, Big Data und das Internet der Dinge werden unsere Welt fundamental verändern. Auch das Verkehrsgeschehen. Die gemeinsame Nutzung von Autos könnte den fatalen Trend zur immer geringeren mittleren Auslastung eines Autos brechen. „Man kann über Uber die Nase rümpfen. Ich finde, die Typen haben einfach begriffen, dass hier eine Ressource manchmal ziemlich nutzlos rumsteht: Autos.“ So spricht ein junger Schweizer, der in Stanford studiert. Als Bahnchef habe ich gelernt, dass die maximale Kapazitätsausnutzung einer Verkehrsinfrastruktur bei möglichst gleichförmigen Geschwindigkeiten erreicht wird. Big Data ermöglicht die Echtzeitinformation über das Verkehrsgeschehen und die Harmonisierung der Verkehrsströme. Vielleicht wird man dereinst zu Spitzenzeiten Slots für eine Fahrt auf der Autobahn reservieren müssen. Kein Problem, denn dann ist das Auto ohnehin ein Computer auf Rädern. Das selbstfahrende Auto ist keine Utopie mehr. Bis zu seiner flächendeckenden Einführung wird es noch dauern. In der Zwischenzeit werden Sensoren in Autos dazu führen, dass die Meldung „Stau wegen Unfall“ zur Seltenheit wird.
Wenn wir akzeptiert haben, dass Staus, Stehplätze und Warteschlangen in einem gewissen Masse unvermeidlich sind, müssen wir eine persönliche Strategie für den Umgang damit entwickeln. Ich entscheide, wo ich wohne, wo ich arbeite, mit welchem Verkehrsmittel ich mich bewege, wann ich zur Arbeit und wieder nach Hause fahre, wie ich mich in der Freizeit bewege. Wer an einem Osterwochenende mit dem Auto durch den Gotthard fährt und stundelang im Stau steht, der tut das im Wissen um alle Konsequenzen. Stauzeiten können daher nicht einfach als volkwirtschaftliche Kosten hochgerechnet werden. Manchmal sind sie nichts anderes als der Preis, den man dafür bezahlt, an die Sonne zu fahren.
Benedikt Weibel