Kolumnen von Benedikt Weibel
Weniger ist mehr
"Persönlich" 1. April 2015
Wenn wir in der Schule einen Aufsatz geschrieben hatten, tauschten wir uns nach getaner Arbeit über die Anzahl geschriebener Seiten aus. Je mehr Seiten, dachte man, desto besser der Aufsatz und höher die Note. An dieser Verbildung leiden wir noch immer. Als gestandener Universitätslehrer stelle ich beim Korrigieren von Prüfungen fest, dass sich nichts geändert hat. Deshalb auch werden epische Strategiepapiere geschrieben. Ich habe mir eines davon aufbewahrt. 41 Seiten, eng beschrieben, mit unzähligen Grafiken und Tabellen. Und einer Präzision, die der Unsicherheit der Lage spottet. Vom grossen Strategen Carl von Clausewitz stammt der wunderbare Satz: „Je präziser man plant, desto gründlicher wird man scheitern.“ So ist es. Die Firma, von der besagtes Strategiepapier stammt, existiert nicht mehr.
Tatsächlich läuft es gerade umgekehrt. Knapp ist effizienter als ausschweifend. „Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen einen langen Brief schreibe, für einen kurzen habe ich keine Zeit.“ Dieses berühmte Zitat, das nicht weniger als vier Geistesgrössen zugeschrieben wird (Goethe, Voltaire, Marx, Twain), bringt es auf den Punkt: Kürzer ist wirkungsvoller, aber auch aufwendiger. Amerikanische Autoren sind die Meister der Shortstory. Mit wenigen, kurzen Sätzen gelingt es ihnen, eine dichte Atmosphäre zu schaffen. Es gibt einen Grund für dieses Können: wichtige Zeitungen und Magazine stellen ihnen regelmässig Spalten für ihre Geschichten zur Verfügung, wobei die Anzahl Zeichen streng begrenzt ist.
Das gleiche Phänomen revolutioniert gerade die digitale Welt. Das i-Phone führte zur Entwicklung neuer Tools für mobile Geräte. Vor wenigen Jahren noch unbekannt, dominieren heute Apps die Benutzeroberflächen. Die Situation für die App-Entwickler ist ähnlich wie jene der amerikanischen Short-Story-Teller. Auf engstem Raum muss optimale Funktionalität geboten werden. Einfachheit ist der ultimative Massstab für die Benutzerfreundlichkeit.
Wer eine Idee zu einem Konzept für ein Startup entwickelt hat, steht irgendeinmal vor dem entscheidenden Moment: der Präsentation vor einem potentiellen Investor oder im Internet, um ein Crowdfunding zu lancieren. Innerhalb von maximal fünf Minuten muss die Essenz des Projektes überzeugend dargestellt werden. Es gilt, alle Energie einzusetzen, um den Kern des Projektes herauszuschälen und eine überzeugende Geschichte zu konzipieren.
Alle sind sich einig, dass Qualität Quantität schlägt. Und doch wird in der Praxis meist das Gegenteil gelebt. Kein Berater wird es wagen, das Resultat seiner Analysen auf fünf Seiten zu komprimieren. Der Umfang von Ausschreibungsunterlagen, Standardverträgen, Einkaufsrichtlinien, Compliance-Vorschriften und Lehrplänen wächst exponentiell. Die Idee, dass Quantität Probleme der Qualität lösen kann, ist nicht auszurotten. Von amerikanischen Short-Story-Autoren, App-Entwicklern und Startup-Präsentatoren lernen wir, dass dagegen nur die verordnete Knappheit hilft.
Benedikt Weibel