Kolumnen von Benedikt Weibel

Der Possibilist

"Persönlich" 1. März 2015

Ich muss mich umstellen. Seit Jahrzehnten kaufte ich am Montagmorgen im Kiosk den „Spiegel“. Nun wird mich das Blatt bereits am Wochenende begleiten. Wie immer werde ich es von vorne nach hinten lesen, nicht alles, manches diagonal. Lange Artikel, die mich interessieren, reisse ich heraus und lege sie auf die Beige der Reiselektüre. Die lese ich dann bei Gelegenheit und markiere herausragende Stellen. Oft lege ich sie nachher in ein Archiv. So auch den Artikel „Der Saldo der Welt“ über zwei Statistikfreaks, welche die Welt anhand von Daten erklären und dabei zu völlig anderen Schlüssen kommen.

Der Schwede Hans Rosling hat den „Schimpansen-Test“ erfunden. Das sind zehn Multiple-Choice Fragen zur Lage der Welt, zum Beispiel über die weltweite Lebenserwartung und die Geburtenrate. Die korrekten Antworten übrigens: 70 Jahre und 2,5 Kinder. Beide Werte haben sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verbessert. In der Regel werden von den zehn Fragen knapp 30 Prozent richtig beantwortet. Ein Schimpanse würde nach dem Zufallsprinzip vorgehen und hätte eine höhere Erfolgsquote. Das zeige, meint Rosling, dass die Leute den Zustand der Welt viel zu pessimistisch einschätzten. Seine Botschaft lautet: „Don’t panic“.

Auch der Engländer Stephen Emmot befasst sich mit Big Data. Seine Themen sind die Überfischung der Weltmeere, Wasserknappheit, Kohleverbrauch und die Überbevölkerung. Zum Zustand der Welt sagt er: „We’re fucked“. Der Mensch könne die Probleme, die er geschaffen hat, nicht mehr lösen.

Typische Optimismus/Pessimismus-Konstellation, könnte man meinen. Aber Rosling definiert sich nicht als Optimist, sondern als Possibilist. Er habe grosse Sympathien für die Gegenposition, aber die helfe nicht weiter. Als Possibilist sage er nicht: „Alles wird gut.“ Er sage bloss: „Es ist nicht das Ende.“ Der „Spiegel“ fasst die Auseinandersetzung grandios zusammen: „Es wird auch in Zukunft Pessimisten brauchen, um die Probleme zu erkennen. Und Optimisten, um sie zu lösen.“

Das ist grossartiger Journalismus. Informativ, unterhaltend, lehrreich, zur Reflexion anregend. Nicht links, nicht rechts, auch nicht rechts von der Mitte und schon gar nicht nationalkonservativ. Aber unabhängig, kritisch, faktenbezogen, alle Seiten ausleuchtend und hervorragend geschrieben. So quasi als Gegenstück habe ich in meinem Archiv einen Artikel der Weltwoche aufbewahrt. Da steht ohne jede Ironie: „Jetzt zeigen Studien, dass die Gletscher wachsen.“ Journalisten als Gletscherschwundleugner. Das ist angesichts dessen, was wir mit blossen Augen sehen, ein starkes Stück. Und sicher nicht das, was wir von einem ernsthaften Medium erwarten.

Man möchte der gebeutelten Branche zurufen: Eure Zukunft ist grossartiger Journalismus! Unabhängig, kritisch, auch und gerade gegenüber den Obrigkeiten. Und so geschrieben, dass das Lesen ganz einfach Spass macht.

Benedikt Weibel