Kolumnen von Benedikt Weibel

Herrschen statt führen

"Persönlich" 1. Oktober 2014

Keine Armee war im 18. Jahrhundert stärker als die Preussen. Ihr Erfolg basierte auf unablässigem Drill. Für die Offiziere war der Soldat eine prügelbare Kanaille. Zurzeit blicken wir mit Beklemmung auf den Ersten Weltkrieg zurück. Die Soldaten in den Schützengräben wussten: wenn sie nicht aus ihren Gräben nach vorne stürmten, wurden sie von ihren eigenen Leuten erschossen.

Unlängst hat „Der Spiegel“ eine eindrückliche Titelgeschichte über den Chef von VW publiziert. Darin der unglaubliche Satz: „VW ist Nordkorea minus Arbeitslager“. Der neue Chef von Siemens spricht es öffentlich aus: Mitarbeiter haben aus Angst vor ihren Vorgesetzten nicht über Probleme oder Fehler gesprochen. General Motors hat in Millionen ihrer Fahrzeuge fehlerhafte Zündschlösser eingebaut. Die Gerichte ermitteln, ob Todesfälle darauf zurückzuführen sind. Die Mängel waren bei den Mitarbeitern bekannt, sie trauten sich aber nicht, ihren Chefs die schlechte Nachricht weiterzuleiten. Auch hierzulande höre ich: „Am besten geht es dir bei uns, wenn du den Mund hältst.“ In der „Bilanz“ stellt der Journalist im Interview mit dem neuen Verwaltungsrats-Präsidenten der Novartis fest: „Daniel Vasella hinterliess eine von Angst geprägte Firmenkultur.“ In der Antwort des Chairmans kein Ansatz einer Relativierung. Man habe seither Fortschritte gemacht, beschied er dem Magazin.

Angst ist das wohl älteste Führungsinstrument überhaupt. Ihr Einsatz war die Folge einer höfischen Kultur und einem Bild vom Menschen als Marionette. Dass heute noch mit Angst geführt wird, und das mehr als man meint, ist schwer zu begreifen. Offenbar gibt es eine riesige Diskrepanz zwischen den Sonntagspredigten über mündige Menschen und der bisweilen bitteren Realität. Es ist zu befürchten, dass die Tendenz zur Angst sogar zunimmt, vor allem in grossen Unternehmungen. Dazu tragen brachiale Zielsetzungen und die entsprechenden Bonusprogramme ihren Teil bei.

Angst lähmt, Angst verhindert jede Risikobereitschaft Wer Angst hat, konzentriert sich auf sich selber und sichert sich stets ab. Angst ist der grösste Kreativitätskiller. Es wirkt geradezu paradox, wenn die gleichen Unternehmungen, in denen sich eine Kultur der Angst breit gemacht hat, das hohe Lied der Innovation singen. Michael Pearson, der Konzernchef der Pharmaunternehmung Valeant, hat erkannt, dass Entdeckungen vor allem an Universitäten und in kleinen Unternehmungen gemacht werden. Wenn Pearson eine grössere Firma gekauft hat, streicht er deren Forschungsabteilungen radikal zusammen. Zur Kompensation kauft er Patente und kreative kleine Firmen. Seine Strategie zahlt sich aus. Seit seinem Wirken hat sich der Aktienkurs von Valeant verzehnfacht.

Wenn in einer Unternehmung eine Kultur der Angst herrscht, sollten alle Alarmglocken läuten. Deshalb müsste ein Verwaltungsrat einem „kulturellen Audit“ ebenso viel Gewicht beimessen, wie der Finanzprüfung. Zum Glück gibt es in der Schweiz so viele KMU’s. Dort stellen sich solche Probleme nicht.

Benedikt Weibel