Kolumnen von Benedikt Weibel

Ockhams Rasiermesser

"Persönlich" 1. September 2014

Komplexität reduzieren ist eine überlebenswichtige Fähigkeit. Der Höhlenbewohner hatte in einem Bruchteil einer Sekunde zu entscheiden, ob ein Freund oder ein Feind vor ihm stand. Zu diesem Zweck musste er fast alles, was er sah, ausblenden und sich auf ein einfaches Muster des Gesichtsausdruckes beschränken. Im frühen Mittelalter erhob der Scholastiker Wilhelm von Ockham dieses Prinzip der radikalen Vereinfachung zur Maxime. Man solle bei einem Problem das Wesentliche herauszudestillieren und alles andere mit dem Rasiermesser abzuschneiden. Der illustrative Begriff 'Ockhams Razor' hat sich bis heute erhalten. Der amerikanische Protagonist der 'Emotionalen Intelligenz', Daniel Goleman, hat es auf den Punkt gebracht: „Just one cognitive ability distinguished star performers from average: pattern recognition, the big-picture thinking.“ Der preussische General und Stratege Carl von Clausewitz hat es „le coup d’oeuil“ genannt: die Fähigkeit, aus einer unübersehbaren Menge von Informationen die relevanten Elemente zu erkennen.

Seit unserer frühesten Kindheit bestimmen Muster unser Leben. Gegenstände werden kategorisiert und später durch Worte benannt. Intuitive Entscheidungen beruhen auf dem Abrufen von gespeicherten Mustern. Im 19. Jahrhundert sind die Ökonomen dem Phänomen von zwei Seiten her auf die Spur gekommen. Vilfredo Pareto hat aufgrund empirischer Studien festgestellt, dass viele Variablen, zum Beispiel das Vermögen der Bürger, asymmetrisch verteilt sind. Sein 80/20-Prinzip ist eine Bestätigung von Ockhams Razor: suche bei einem Problem die 20 Prozent der möglichen Massnahmen, welche 80 Prozent der Wirkung erzeugen. Unabhängig von Pareto hat Hermann Heinrich Gossen das fundamentale ökonomische Gesetz des abnehmenden Grenznutzens entdeckt. Mathematischer Ausdruck des Phänomens ist eine gekrümmte Summenkurve, die der Pareto-Verteilung ähnlich ist. Das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens wird mit dem Ausdruck „low-hanging-fruit-effect“ plastisch umschrieben. Die Handlungsanweisung ist unmissverständlich: pflücke zuerst die tiefhängenden Früchte. Alles, was danach kommt kostet mehr und bringt weniger Ertrag.

Die Themen Einfachheit und Mustererkennung faszinieren mich seit langem. Je mehr ich mich in die Problematik vertieft habe, desto breiter wurde der Untersuchungsgegenstand. Philosophie, Mathematik, Wissenschaftstheorie, Psychologie, Neurologie, Psychiatrie, Malerei, Architektur, Schachspiel, Sprache, Management: überall spielen Muster eine entscheidende Rolle. Daraus ist ein Buch entstanden, voller Geschichten über die Kunst, sich auf das Wesentliche zu beschränken.

Die Realität zeigt immer wieder, wie schwer dies fällt. Zum Beispiel beim Lehrplan 21, welcher unsere Bildungspolitik auf Jahre hinaus festlegen soll. Das Dokument ist 550 Seiten stark und listet über 4000 Kompetenzen auf. Da hilft nur eines: ein tiefer Schnitt mit Ockhams Rasiermesser.

Benedikt Weibel