Kolumnen von Benedikt Weibel
Silver Worker auf dem Vormarsch
"Schweiz am Sonntag" 1. April 2014
Die Nachricht: Pro Senectute hat eine Kampagne über das „vierte, fragile Alter“ lanciert. In weniger als 50 Jahren werden in der Schweiz mehr als eine Million Menschen in die Kategorie der Ü 80 fallen. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Jugendlichen von heute beträgt rund 100 Jahre. Die bange Frag lautet: Sind wir in der Lage, die Folgen des langen Leben gesellschaftlich zu tragen?
Der Kommentar: „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“ So zutreffend dieser Kalauer ist, auf die Veränderung der Alterspyramide trifft er nicht zu. Es gibt keinen anderen Bereich, den man auf Jahrzehnte hinaus so präzise vorhersehen kann. Heute tragen vier Erwerbstätige an die Finanzierung einer AHV-Rente mit, 2050 sind es noch zwei. Deshalb, meint die Pro Senectute, sollte man weniger von einer Überalterung sprechen als vielmehr von der Unterjüngung.
Wir wissen, was auf uns zukommt. Wir wissen, dass mit dieser Entwicklung enorme Probleme verbunden sind: Finanzierung von Renten, massiv steigende Gesundheitskosten, grosser Bedarf nach Alterswohnungen und steigende Nachfrage nach Pflegeplätzen. Trotzdem passiert wenig bis nichts. Eine öffentliche Diskussion findet kaum statt. Die Probleme werden verdrängt oder gar tabuisiert. Der ehemalige Bundesrat Pascal Couchepin hat die Rente ab 67 Jahre als Möglichkeit erwähnt und damit einen derartigen Sturm ausgelöst, dass man noch heute darüber nicht mehr zu sprechen wagt.
Gegen die Logik sollte man nie ankämpfen. Und hier ist die Logik zwingend: es führt kein Weg an längeren Lebensarbeitszeiten vorbei. Klar ist auch, dass Einheitslösungen durch individualisierte Konzepte abgelöst werden müssen. Damit ist das Argument der Unzumutbarkeit längerer Lebensarbeitszeiten für die körperlich harten Arbeiten vom Tisch. Abgesehen davon, dass solche Arbeiten zunehmend verschwinden. Aber ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer würden gar keine Stelle mehr finden, sagt man. Nun zeigt sich in Deutschland, dass sich innert 10 Jahren die Anzahl der Berufstätigen im Rentenalter verdoppelt hat. Ihr Anteil an der Gesamtbeschäftigung hat sich von 1,7 auf 2,9 Prozent erhöht. Man nennt sie Silver Workers. Man beschäftigt sich mit dem Phänomen. In Berlin gibt es sogar ein Silver Workers Research Institute. Silver Workers sind so gesucht, dass Ökonomen bereits von einem Trend sprechen. Das Erstaunlichste dieser Entwicklung sind die Untersuchungen zur Arbeitszufriedenheit: die Silver Workers sind unter all den Werktätigen am zufriedensten. Nach den Gründen dafür gefragt, rangiert zuoberst der Spass an der Arbeit, es folgen die Möglichkeit sozialer Kontakte und der Wunsch, geistig fit zu bleiben. Viele merken es erst, wenn sie nicht mehr da ist: Arbeit ist nicht nur Last, sondern auch Lebensinhalt.
Das ist der Kern der Sache. Mit der Lebenserwartung hat sich auch die Vitalität der Menschen nach oben verschoben. Auch dafür gibt es neue Namen: Downaging oder Juvenilitäts-Tendenz. Ich habe mich immer über Menschen gewundert, die jahrelang die Tage bis zur Pensionierung gezählt haben. Und dann? Kein Wochenende mehr, keine Ferien mehr, alle Reisen gemacht, der Garten gepflegt, Ruhestand, Stillstand. Deshalb empfinden immer mehr Menschen das starre Rentenregime als Entmündigung. Deshalb suchen immer mehr vitale Ü 65 nach einer Beschäftigung.
Wir sollten uns über diese Entwicklung freuen. Sie produziert nur Gewinner. Die Silver Worker verbessern ihr Einkommen, sie haben Spass an der Arbeit, die Unternehmung profitieren von ihrer Erfahrung und das Land sichert sich genügend Arbeitskräfte. Wenn wir die Zuwanderung begrenzen und wegen der zunehmenden Akademisierung immer mehr junge Menschen vom Werkplatz in die Hörsäle treiben, sind wir darauf angewiesen. Vor allem aber: je mehr Silver Worker tätig sind, desto mehr werden die Sozialwerke entlastet.
Anderswo werden diese Themen öffentlich diskutiert. Die wirklich fortschrittlichen Staaten, für die „Gouverner c’est prévoir“ immer noch gilt, haben schon reagiert. In Norwegen können die Menschen selbst entscheiden, ob sie mit 62 oder 75 (!) Jahren in den Ruhestand gehen. Wo sind die Politiker, die dieses Schlüsselthema offensiv angehen? Und wo die Medien, welche die dringend notwenige Debatte lancieren?
Benedikt Weibel, Silver Worker