Kolumnen von Benedikt Weibel

Eine Schlagzeile und ihre Geschichte

"Persönlich" 1. Juni 2014

Der „Monitor Schweiz“ der Credit Suisse sorgt selten für Schlagzeilen. Deshalb wohl haben sich die Ökonomen der Bank eines Themas angenommen, das kaum zu den Kerngeschäften einer Grossbank gehört. „Die Schweiz steht im Stau. Von 2008 bis 2012 haben sich die Staustunden auf den Nationalstrassen verdoppelt“. Tatsächlich, dieses Mal wurde ein beträchtliches Medienecho ausgelöst. Das Thema passt ja auch bestens in die Dichtestress-Diskussion.

Die Studie der Credit Suisse basiert auf Daten der Bundesämter für Strassen und für Statistik. Die wurden bereits im Juni 2013 veröffentlicht. Mit einer Medienmitteilung mit dem ganz unspektakulären Titel „Das Verkehrswachstum auf den Nationalstrassen hat sich verlangsamt.“ Tatsächlich hat der Verkehr auf den Nationalstrassen 2012 gegenüber dem Vorjahr gerade mal um 0.3 Prozent zugenommen. Wer unter „Staustunden Schweiz“ im Web sucht, findet eine Seite des Bundesamtes für Statistik mit folgender Erläuterung: „2012 wurden auf den schweizerischen Nationalstrassen 19'921 Staustunden registriert. Im Vergleich mit 2008 kommt dies beinahe einer Verdoppelung gleich ... Es ist davon auszugehen, dass ein beträchtlicher Teil der zusätzlich gemessenen Staustunden auf eine verbesserte Erfassung des Verkehrsgeschehens zurückzuführen ist.“

Das ist erstens eine Lektion zum Kapitel „Zuspitzung“. Nicht nur Medienschaffende arbeiten mit diesem Instrument, sondern ganz ungeniert auch die sich wissenschaftlich gebenden Ökonomen der Credit Suisse. Es ist zweitens eine Lektion im Recycling von Nachrichten, die das Verfalldatum längst überschritten haben. Es ist drittens eine Lektion im unkritischen Abschreiben von Medienschaffenden. Die Aussage der Verdoppelung der Staustunden in nur vier Jahren ist schlicht falsch. Sechzig Sekunden hätten genügt, um den Gehalt der Meldung zu überprüfen. Jüngst hat gar ein Professor seinen Kommentar auf der Meinungsseite der NZZ an dieser Falschmeldung aufgehängt. Schliesslich ist es eine Lektion in mangelnder Neugier. 19'021 Staustunden: ist das im Vergleich mit ähnlichen Volkswirtschaften viel oder wenig?

Ein Detail? Nein: diese Aussage ist nun gesetzt, unumkehrbar. Vor zwei, drei Jahren wäre das noch kein Problem gewesen. Aber jetzt, wo die Staus auf den Autobahnen zum Indikator für die Masseneinwanderung geworden sind, setzt sich diese Aussage in den Köpfen der Menschen fest. Wie die Stehplätze im Zug. Davon höre ich vor allem von Leuten, von denen ich weiss, dass sie grundsätzlich nicht Zug fahren.

Die Welt der gedruckten Presse diskutiert unentwegt über Möglichkeiten, der digitalen Falle zu entkommen. Wie wäre es, wenn man einfach ein gutes Produkt machen würde, mit Fakten, die stimmen, Hintergründen und Interpretationen? So geschrieben, dass es Spass macht. Den Ökonomen der Credit Suisse möchte man empfehlen, vielleicht doch lieber über Aktienkurse und Zinssätze zu publizieren. Oder über weisse Westen.

Benedikt Weibel