Kolumnen von Benedikt Weibel
Hysterie um Überbevölkerung und Verkehrsinfarkt
"Schweit am Sonntag" 15. Oktober 2013
Die Nachricht: Zuwanderung, Überbevölkerung und dadurch ausgelöste Überlastung der Infrastrukturen sind zu einem viel diskutierten Thema geworden. Sogenannte Experten überbieten sich mit Vorschlägen. Der Liter Benzin müsse auf zehn Franken und der Preis eines Generalabonnements auf siebentausend Franken erhöht werden. Im Mittelland sollte Wald gerodet werden, um Wohnraum zu gewinnen.
Der Kommentar: Die Schweiz misst 41'000 km² und hat 8 Millionen Einwohner. In London lebt die gleiche Anzahl Menschen auf 1'500 km². Wer sich in London bewegt, der hat sich längst an die täglichen Staus und die proppenvolle U-Bahn gewöhnt. Das gehört ganz einfach zu dieser boomenden Stadt. In der Schweiz hingegen hat sich die Vorstellung der Verkehrsidylle erhalten. Freie Fahrt auf allen Strassen und garantierter Sitzplatz im öffentlichen Verkehr als ultimative politische Zielsetzung. Seit ich mich erinnere, wird ein Gespenst namens Verkehrsinfarkt an die Wand gemalt. Der aus der Medizin entlehnte Begriff malt die Gefahr des totalen Zusammenbruchs des Verkehrs an die Wand. 1972 stimmte Zürich über eine U-Bahn ab. Eine Ablehnung würde zum Verkehrsinfarkt führen, warnten die Befürworter. Das Projekt wurde abgelehnt. Zürich funktioniert immer noch, aber das Schreckgespenst des Verkehrsinfarktes ist geblieben. Sogenannte Verkehrsexperten haben so lange von überfüllten Zügen, Bahnhöfen und Autobahnen gesprochen, dass heute viele Menschen überfüllte Züge, Bahnhöfe und Autobahnen als eine Realität wahrnehmen. Schlimmer noch: nicht nur Züge, Bahnhöfe und Autobahnen sind überbevölkert, sagen uns die Experten, das ganze Land ist überbevölkert. Je mehr Experten diese Meinung verbreiten, desto mehr setzt sich die Meinung fest: die Schweiz ist von der Überbevölkerung bedroht. Panik greift um sich. 'Wir müssen Wälder im Mittelländisch roden, um Wohnraum zu gewinnen'. Sagt nicht etwa ein Experte, sondern ein gestandener Regierungsrat.
Es ist Zeit, dass wir die Kirche wieder in die Mitte des Dorfes stellen. In einer Wirtschaft, die gut läuft, sind Stau und Stehplätze etwas völlig Normales. Die Warteschlange ist ein Zeichen für den Erfolg. Psychologen haben herausgefunden, dass Leute in einer Warteschlange bereit sind, höhere Preise zu bezahlen. Stellen Sie sich ein Eidgenössisches Schwingfest ohne stockenden Kolonnenverkehr und ohne Warteschlangen vor. Was für eine eine traurige Angelegenheit! Staus und volle Züge gehören zur modernen Welt wie Verkehrsampeln zur Stadt. Übrigens: der moderne Mensch steht mit seinem Auto in der Summe länger vor Rotlichtern als im Stau. Und trotzdem will niemand die Verkehrsampeln abschaffen. Natürlich hat es viele Menschen in einem Bahnhof. Dafür sind Bahnhöfe nämlich gebaut. Der moderne Mensch ist flexibel. Er lernt, mit Sättigungsphänomenen umzugehen. Der Zug zwischen Zürich und Bern ist um sieben Uhr früh immer stark besetzt. Um 6.32 und um 7.11 gibt es Züge mit genügend Platz. Wer den Gotthard-Strassentunnel zur Ferienzeit meiden will, weicht dem Stau durch den Lötschberg - Simplon oder den grossen Sankt Bernhard aus.
Das ist kein Plädoyer für den Stillstand. Es gibt viele Ansatzpunkte, um die Effizienz der Verkehrssysteme zu verbessern. Im Schnitt sitzen in einem Auto 1.57 Menschen, ein Wert der kontinuierlich abnimmt. Das ist ein Trend, der sich umkehren lässt, wie die Erfahrung anderer Länder zeigt. 79 Prozent der Pendlerwege von Autos sind kürzer als 20 Kilometer. Das sind Distanzen, die sich bestens für das e-Bike eignen. Die durchschnittliche Belegung der Züge beträgt ungefähr 30 Prozent. Wenn es gelingt, die Verkehrsspitzen etwas zu glätten, wird das Reisen in den Stosszeiten angenehmer. Ein Doppelstockzug kann bis zu 1'500 Sitzplätze anbieten. Davon sind wir heute noch weit entfernt. Zu guter Letzt muss man gezielt investieren, um ausgesprochene Kapazitätsengpässe auf Strasse und Schien zu beseitigen. Bevor wir ans Abholzen unserer Wälder gehen, sollten wir einige Überlegungen über verdichtetes Bauen anstellen. Vor allem aber sollten wird uns von allzu idyllischen Vorstellungen verabschieden. Eine boomende Wirtschaft ist ohne ein hohes Mass an Mobilität nicht denkbar. Wir müssen lernen, mit ihren Nebenwirkungen umzugehen. Wir wissen, dass die Anzahl älterer Menschen zunimmt. Wer von einer Schweiz ohne Bevölkerungswachstum träumt, stelle sich vor, was das für unsere Sozialwerke bedeuten würde.
Benedikt Weibel