Kolumnen von Benedikt Weibel

Ausgebrannt

"Persönlich" 1. Oktober 2013

Um 1870 verbreitete sich eine neue Krankheit epidemisch. „Neurasthenie“ bezeichnete einen Zustand der „Erschöpfung der Nerven“. Charakteristisches Merkmal war die Angst, am Arbeitsplatz zu versagen. Hauptsächlich betroffen waren Kaufleute, Beamte, Lehrer und Studenten, weder Arbeiter noch Landwirte. Manager gab es zu der Zeit noch nicht. Ein Historiker bemerkt sarkastisch, dass sich die Krankheit ausgerechnet die Menschen aussuchte, die das Leben der modernen Welt mit allen ihren Möglichkeiten auslebten. 1940 war das Phänomen verschwunden, die Menschheit hatte andere Probleme. 1980 begann der Aufstieg von 'Burnout'. Burnout gilt nicht als Krankheit, das Institut für Arbeitsmedizin empfiehlt von 'Anpassungsstörung (den Anforderungen nicht gerecht werden) zu sprechen. Seltsam, dass der offensichtlich gleiche Tatbestand aus dem Nichts auftaucht, über Jahrzehnte verschwindet und dann unter neuem Namen eine Renaissance erfährt. Im Spitzensport ist das Phänomen seit langem bekannt. Dort heisst es ganz nüchtern 'Übertraining'. Ein Spitzensportler ist immer auf der Suche nach dem richtigen Trainingsumfang. Trainiert er zu wenig, wird er nicht gut genug, trainiert er zu viel, fällt die Leistung ab. Auch sein Coach ist nicht in der Lage, das Optimum zu bestimmen. Da hilft der Sportlerin nur ihr ausgebildetes Körpergefühl. Vor allem aber weiss sie, dass Erholung ebenso wichtig ist wie das Training. Übertraining ist etwas gänzlich Unspektakuläres, es produziert keine Schlagzeilen und kein Bedauern, höchstens den Reflex 'selber schuld'.

Ganz anders der Burnout. In den letzten Jahren hat der 'Spiegel' nicht weniger als vier Titelgeschichten dazu geschrieben. Seitdem in kurzer Folge mehrere Top-Manager freiwillig aus dem Leben geschieden sind, überschlagen sich die Interpretationen und Spekulationen. These Nummer 1: der Burnout ist Schuld. Analogien zum Spitzensport sind heikel. Hier aber sind sie durchaus lehrreich. Ein Spitzensportler weiss, dass Erholung ebenso wichtig ist, wie die Belastung. Er weiss, dass man Erholung planen muss. Er lernt, auch kleine Pausen für maximale Regeneration zu nutzen. Dass ein Power-Nap von nur zehn Minuten eine wunderbar belebende Wirkung hat. Dass ein gemütlicher Spaziergang einen wieder auf den Boden bringt. Ohne ein ausgeprägtes Körpergefühl, wird er nie an die Spitze kommen. Er muss die Signale seines Körpers kennen, interpretieren und ernst nehmen, damit er immer wieder die Balance findet zwischen zu viel und zu wenig. Und dafür ist nur er selber verantwortlich.

Wenn der Körper Warnsignale sendet, muss man reagieren. Oft erzielen kleine Massnahmen eine grosse Wirkung. Man sagt, Willy Brandt sei depressiv gewesen, was sein sein Sohn vehement bestreitet. 'Wenn mein Vater zweimal im Jahr sagte, drei Tage will ich keinen mehr sehen, hat das mit Depression nichts zu tun, sondern mit Gesundheit.'' Der Trainer des EHC Biel, Kevin Schläpfer, reserviert sich jeden Tag eine Stunde für sich ganz allein, ohne Telefon und Mail. Dabei macht er immer einen Spaziergang, wenn es nicht anders geht auch spät in der Nacht. 'Dieses Ritual geniesse ich. Da verarbeite ich den Tag und mache mir Gedanken über den nächsten.' Wer sich diese Zeit nicht organisieren kann, für den gilt das Wort von Harry Truman : 'Wer die Hitze nicht erträgt, soll nicht in die Küche.'

Benedikt Weibel