Kolumnen von Benedikt Weibel

Wer führt die Unternehmung?

"Schweiz am Sonntag" 1. September 2013

Wer Betriebswirtschaft studiert, lernt schon im ersten Semester, dass unklare Verantwortungen eine organisatorische Todsünde sind. Sie sind neben persönlichen Unverträglichkeiten der häufigste Grund für Konflikte in einer Institution. Es ist schon verwunderlich, dass das Schweizerische Obligationenrecht im Kapitel über die Aktiengesellschaft ausgerechnet auf die wichtigste Frage, wer eine Aktiengesellschaft führt, keine klare Antwort gibt. Gemäss Artikel 716 des OR übt der Verwaltungsrat die Oberleitung der Gesellschaft aus. Aus diesem nicht eben geläufigen Wort lässt sich herauslesen, dass es auch noch eine „normale Leitung“ gibt. Deshalb sieht das OR vor, dass der Verwaltungsrat die Geschäftsführung delegieren kann. Wenn er das nicht tut, hat der gesamte Verwaltungsrat die Führung wahrzunehmen. Es gibt im OR keine Bestimmung, welche eine Sonderstellung des Präsidenten des Verwaltungsrates legitimiert.

Der Gummiartikel im OR lässt viel Raum für die Definition der Rollen an der Unternehmungsspitze. Das ist in den angelsächsischen Ländern, auch in Deutschland und Österreich anders. Die Angelsachsen sagen kurz und bündig: The CEO runs the company, the Chairman runs the board. Den CEO haben wir von den Angelsachsen ja schon übernommen. Das ist eigentlich ein klares Bekenntnis für die Führung durch den CEO. Das E steht schliesslich für executive. In Deutschland und Österreich wird die Unternehmung vom Vorstand geführt. Der Aufsichtsrat wählt und beaufsichtigt den Vorstand. Diese Wortwahl lässt keinen Zweifel über die Verantwortungen offen.

Das Swissair Grounding hat zu einer intensiven Diskussion über die Rolle des Verwaltungsrates geführt. Noch nie stand ein Verwaltungsrat derart im Fadenkreuz der Experten und Medien. Der Verwaltungsrat habe nicht geführt, hiess es und man habe ihn zu wenig wahrgenommen. Es folgte der Ruf nach starken Verwaltungsräten. Das führte zu einem Missverständnis, das heute noch nicht ausgeräumt ist. Das wirkliche Problem des Swissair Verwaltungsrates waren nämlich nicht strategische Unterlassungen oder zu wenig straffe Führung, sondern die ungenügende Aufsicht. Der CEO der Swissair setzte die beschlossene Strategie höchst mangelhaft um. Der Verwaltungsrat hat nicht eingegriffen. Zu den wichtigsten Aufsichtspflichten eines Verwaltungsrates gehört das Risikomanagement. Auch hier hat der VR der Swissair versagt. Weder er noch die Geschäftsführung haben die letztlich tödliche Liquiditätsfalle rechtzeitig erkannt. Der Ruf nach starken Verwaltungsräten ist berechtigt, so lange es um die effektive Aufsicht über die Geschäftsführung geht. Wer aber Stärke als Eingriff in die operative Unternehmungsführung interpretiert, begeht einen gefährlichen Pfad. Es ist Mode geworden, dass sich ein neu ernannter Verwaltungsratspräsident als aktiv oder gar exekutiv positioniert. Das ist eine Warnung an den CEO. Er sagt ihm „ich werde die Dinge in die Hand nehmen“. Damit ist der Keim des Konfliktes gelegt. Diese Entwicklung ist umso erstaunlicher, als OR 716 dem Verwaltungsratspräsidenten gar keine Sonderstellung zugesteht.

Wer je in einer sogenannten Oberleitung gewirkt hat, lernt schnell, dass die Qualität der Geschäftsführerin oder des Geschäftsführers der wichtigste Faktor für den Erfolg einer Organisation ist. Die wichtigste Aufgabe eines Verwaltungsrates ist daher die Wahl, die Regelung der Nachfolge und unter Umständen die Absetzung des CEO’s. Ein guter Verwaltungsrat unterstützt den CEO, fordert die Geschäftsleitung im Dialog und schaut ihr systematisch auf die Finger. Die Arbeit eines Verwaltungsrates ist nicht spektakulär. Er wirkt im Hintergrund. Es ist ein gutes Zeichen, wenn man ihn in der Öffentlichkeit wenig wahrnimmt. In den Fokus der Medien kommt er nur in ausserordentlichen Situationen, und die möchte er eher vermeiden.

Wer führt die Unternehmung? Es gibt nur eine Antwort: der CEO. Nur er kennt die Unternehmung und die Branche in allen Facetten. Daher muss der CEO die Unternehmung auch nach aussen vertreten.

Es wäre an der Zeit, OR 716 zu revidieren. Das wird Jahre dauern. Die Unternehmungen müssten daher die aktuelle Diskussion als Anstoss für eine Grundsatzdiskussion der Rollen von Verwaltungsrat, Verwaltungsratspräsident und CEO nutzen. Auch wenn es weh tut, das zuzugeben: für einmal hat die Schweiz nicht die beste Lösung.

Benedikt Weibel