Kolumnen von Benedikt Weibel

Wir 68er

"Sonntag" 13. Januar 2008

Die 60iger Jahre waren das Jahrzehnt der Rockmusik, schreibt ein grosser englischer Historiker. Nach den Kriegsjahren und der grauen Nachkriegszeit kündete die Musik einen neuen Zeitgeist an. Vorher war die Welt schwarz/weiss, wir haben sie farbig gemacht, so hat es einer der vier Beatles umschrieben.

Nie war der Bruch zwischen zwei Generationen so gross. Unsere Eltern waren noch von den Entbehrungen des Krieges geprägt, wir wurden auf der Welle des Wirtschaftswunders ins sorgloseste Jahrzehnt der Geschichte hochgespült. Der erste Konflikt war banal, es ging um das Symbol der neuen Zeit, die langen Haare. Damit grenzte man sich gegen das Establishement ab.

Was mit viel Spass und neuem Lebensgefühl begann, wurde zur intellektuellen Bewegung. Wir lasen unglaublich viel. Zunächst Literatur wie Hermann Hesses Siddharta, die grossen Philosophen und A.A. Neills "Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung". Formale Autoritäten haben wir zuerst an den Universitäten mit dem Slogan "Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren" radikal in Frage gestellt. Nicht mehr Status, sondern Kompetenz sollte Autoritäten legitimieren. Immer weitere Themen kamen dazu: der Krieg in Vietnam, Aufrüstung, Konsumkritik, Armut in der Welt, Gerechtigkeit. So wurde eine ursprünglich romantische Bewegung nach und nach politisch.

Mit der Erdölkrise und dem Wirtschaftseinbruch war 1973 das Fest vorbei und der Staub der Geschichte legte sich über die Epoche. Nun ist es seit einiger Zeit zu einem erstaunlichen Revival gekommen. Plötzlich sind die 68er verantwortlich für alle Übel dieser Welt. Diese späte Verteufelung, die bis zum blanken Hass von Leuten geht, die damals noch nicht einmal geboren waren, ist schwer erklärbar. Die Welt ist heute in vielen Dingen das Gegenteil von dem, was wir seinerzeit angestrebt haben. So waren wir ausgesprochen kritisch gegenüber hemmungslosem Konsum. Es wäre reizvoll, der Frage auf den Grund zu gehen, ob sich das Verhalten der heutigen Jugend eher durch die vor 40 Jahren gepflegten Ideen über die antiautoritäre Erziehung oder durch Markenfetischismus und unkontrollierten Medienkonsum erklären lässt.

Es gehört zu den Irrtümern von 68, die Familie als Institution in Frage gestellt zu haben. Auch da liesse sich trefflich darüber diskutieren, ob diese längst zurückliegende Episode der Geschichte zum heutigen Zustand des Zusammenlebens geführt hat oder das von gewissen Kreisen immer noch hochgehaltene klassische Rollenmodell in der Familie. Fakt ist, dass viele Familien ohne Doppelverdienst nicht über die Runde kommen. Und weil konservative Familienpolitiker bis heute verhindert haben, dass dafür unterstützende Strukturen in Schulen und Krippen bestehen, leben viele Kinder ohne Aufsicht.

Wir haben an die Vision einer gerechteren Welt und an das Gute im Menschen geglaubt. Zu Pragmatikern und Realisten haben wir uns früh genug gewandelt.

Benedikt Weibel